Heute habe ich auf den Tag genau die Hälfte meines Freiwilligendienstes hinter mich gebracht. Die zweite Hälfte liegt nun noch vor mir. In den letzten Tagen und Wochen habe ich immer mehr festgestellt, wie schnell die Zeit vergeht. Und langsam beschleicht mich auch die Vermutung, dass es mir zum Ende hin immer schneller vorkommen wird. Bereits jetzt bekomme ich leichte „Torschluss-Panik“ – so vieles gibt es noch zu sehen, auszuprobieren, zu erfahren!
Ich denke, dass es wichtig ist, sich die eigenen Wünsche, Erwartungen und Ziele klar zumachen, damit man am Ende nicht allzu enttäuscht ist, dass man noch nicht ALLES gesehen hat, was es zu sehen gab. Denn ein Jahr ist zwar eine lange, aber dennoch begrenzte Zeit. Deshalb möchte ich mir lieber realistische Ziele stecken, um nachher mit dem Gefühl zurück nach Deutschland gehen zu können, einen meiner Lebensträume tatsächlich erfüllt zu haben.
Mein Zwischenresümee:
Ich lebe in Brasilien und bin schon eine (fast) vollständige Einwohnerin der Stadt Sao Paulo. In wenigen Tagen erhalte ich meine eigene CPF von der Polícia Federal, eine eigene Registrierungsnummer, die jeder gemeldete Brasilianer hat, und die man als Ausländer nach einem halben Jahr Aufenthalt erhält. São Paulo – vielmehr noch Horizonte Azul – ist für mich schon ein Zuhause geworden. Schon längere Zeit fühle ich mich nicht mehr wie ein Tourist in der Fremde, sondern habe einen normalen Alltag und sehe hier im Stadtteil immer häufiger bereits bekannte Gesichter auf der Straße. Durch den Chor in der Innenstadt habe ich nun auch Freunde und Bekannte aus ganz unterschiedlichen Gegenden und mit verschiedenen sozialen Hintergründen.
Mein Portugiesisch ist inzwischen auf einem Niveau, mit dem ich mich fast immer erfolgreich verständigen kann. Mit Freunden und Bekannten kann ich mich über längere Zeit hinweg auf portugiesisch unterhalten, nur bei komplizierten Sachverhalten mangelt es mir noch oft an Vokabular. Grammatik müsste ich eigentlich auch üben, allerdings fehlt mir hierzu die Motivation, da die Kommunikation ja normalerweise trotzdem gelingt, selbst wenn man die Verbformen oder Artikel verdreht. Ich bin immer noch jedes Mal ein kleines Bisschen stolz, wenn ich mich unterwegs mit Fremden erfolgreich verständigen kann. Meistens sind es Situationen wie „nach dem Weg fragen“ – wie oft habe ich mir schon Buslinien, Haltestellen, Umsteigemöglichkeiten etc. erklären lassen – oder „Einkaufen“ – vermutlich wäre es praktischer, vorher im Wörterbuch nachzuschlagen, wie das, was man sucht, eigentlich auf portugiesisch heißt, aber erklären macht auch Spaß ;). Mein Ziel ist es, nachher Portugiesisch so gut zu beherrschen, dass ich mich ohne (sprachlich begründete) Missverständnisse verständigen kann.
Nun zum wichtigsten Teil meines Rückblicks: Was habe ich durch meine Freiwilligenarbeit und mein Leben hier in Brasilien bereits gelernt, was ich in Deutschland nicht hätte lernen können? Welche Erwartungen haben sich erfüllt, welche (noch) nicht?
Ich bin mit der Erwartung hierher gekommen, dass Englischunterricht dringend benötigt wird und ich dementsprechend auch primär dafür eingesetzt werde. Immerhin hieß es in der Ausschreibung, dass insbesondere für Instrumente und Fremdsprachen dringend Freiwillige gesucht werden. Tatsächlich habe ich das erste halbe Jahr allerdings vorwiegend gebastelt, geputzt, Gemüse geschnitten und mit Kindern gespielt. Bis vor einer Woche habe ich nur 3-4 mal die Woche jeweils eine Stunde Englisch unterrichtet. Zum Teil an den Rahmenbedingungen – die Schule umfasst nun einmal nur 5 Klassen – und auch an mir, denn ich habe mich tatsächlich etwas davor gescheut, die unteren Klassen zu unterrichten, weil ich aus dem (Realschul-)Studium so gut wie nichts über den Fremdsprachenunterricht für ganz junge Lerner weiß, und mich anfangs auch nicht wirklich gut auf Portugiesisch mit ihnen verständigen konnte.
Zum anderen ist es aber mehr als nur ein Klischee, dass Brasilianer nicht auf dieselbe Art und Weise organisieren wie es Deutsche tun. Ich habe früher oft gehört, dass Organisation, Struktur und Zuverlässigkeit deutsche Tugenden seien. Die Bedeutung dessen habe ich aber erst in den letzten Monaten wirklich erfahren. Es ist eben nicht selbstverständlich, dass etwas, das angekündigt wird, auch tatsächlich geschieht. Es ist auch nicht selbstverständlich, dass die Koordinatoren verschiedener Bereiche sich so absprechen, dass eine Freiwillige möglichst effektiv eingesetzt wird. Da kommt es eben vor, dass sich der Verantwortliche der Jugendarbeit darüber beklagt, dass es keine Englischlehrer gibt, und die ausgebildete Englischlehrerin im Unterricht einer anderen Lehrerin sitzt und Filzstreifen für Flötentaschen zurecht schneidet, weil es sonst gerade nichts zu tun gibt. Allerdings sehe ich diesen (aus meiner Perspektive) Mangel an sinnvoller Organisation inzwischen als eine weitere Lernerfahrung, die ich hier in Brasilien mache.
Immer wieder erleben Johanna und ich Situationen, über die wir uns vor ein paar Monaten noch aufgeregt hätten, und über die wir heute lachen können. In ein paar weiteren Monaten werden wir sie vielleicht gar nicht mehr als ungewöhnlich empfinden. Teilweise kann das auch eine wichtige Lektion für mich persönlich werden. Oft habe ich mich in Deutschland über Dinge geärgert, die bei genauerer Betrachtung eigentlich gar nicht besonders wichtig waren. Ich hoffe, dass ich für solche Situationen die brasilianische Gelassenheit mitnehmen kann. Wir haben bereits von einer Brasilianerin die Handgeste gelernt, die für solche Situationen existiert: Man schlägt mehrmals abwechselnd den einen Handrücken gegen die Handunterseite der jeweils anderen Hand – das heißt so viel wie: „Tanto faz“ (=whatever; für mich ist es ohne Belang, wie das jetzt genau läuft). Diese Geste ist für mich sehr aussagekräftig und steht im starken Kontrast zur Ernsthaftigkeit und Genauigkeit, die für mich inzwischen „typisch deutsch“ geworden ist.
Diese Einsichten in landestypische Eigenschaften habe ich vor allem dem Zusammenleben mit unserer neuen argentinischen Freiwilligen zu verdanken, mit der wir uns oft zu dritt über solche Unterschiede unterhalten. Dadurch haben Johanna und ich bereits oft einsehen müssen, dass etwas gar nicht unbedingt „typisch brasilianisch“ ist, sondern unsere Sichtweise darauf „typisch deutsch“. 🙂
Eine weitere brasilianische Eigenschaft, die ich kennengelernt habe und auch ein wenig annehmen möchte, ist die Fähigkeit, ohne besonderen Anlass feiern zu können und ausgelassen und fröhlich zu sein. Und damit meine ich etwas anderes als ein plattes „Hey, lass uns Party machen!“, sondern ein Lebensgefühl, das bereits den Kindern hier – nicht nur sprichwörtlich – in die Wiege gelegt wird. Ich habe erlebt, wie selbst der Geburtstag eines Einjährigen hier lautstark und mit einer schätzungsweise 5kg-Torte gefeiert wurde, oder wie eine tosende Menschenmenge in der Innenstadt Sao Paulos den WM-Sieg der Deutschen feiert, obwohl es doch Deutschland war, das Brasiliens katastrophale Niederlage (7:1) im Halbfinale verursacht hat. Zusammengenommen ist das ein Lebensgefühl, das mich immer wieder zum Staunen bringt, und das ich zumindest im Ansatz für mich mitnehmen möchte.
Für meinen weiteren Aufenthalt habe ich mir vorgenommen, weiterhin landestypische Kulturgüter kennen zu lernen. Nachdem ich Forró nun schon ein halbes Jahr lang gelernt habe, möchte ich nun noch Sertanejo (Tanz) lernen und einen Capoeira-Kurs besuchen. Das Reiseziel Rio de Janeiro steht schon längere Zeit fest. Außerdem möchte ich noch mindestens einmal ans Meer, nachdem es in Trindade so wunderschön gewesen ist. Dass ich den Regenwald besuche, halte ich inzwischen für unwahrscheinlich, da sowohl Zeit als auch Geld begrenzt sind. Lieber hebe ich mir das für einen späteren Brasilien-Besuch auf und konzentriere mich darauf, die Gegend um São Paulo noch besser kennen zu lernen.
Für meine Freiwilligendienst habe ich mir nun vorgenommen, daran zu arbeiten, welche Spuren ICH hinterlasse. Alle Kinder, die bei mir Englischunterricht gehabt haben, sollen auch tatsächlich etwas dabei lernen, sodass die Englisch-Freiwilligen, die nach mir kommen, nicht wieder bei quasi Null anfangen müssen. Und vielleicht kann ich, indem ich meinen Stundenplan mehr selbst in die Hand nehme, eine Kostprobe der deutschen Organisationsfähigkeit nach Brasilien bringen, in der Hoffnung, dass ein wenig davon abfärbt und so beide Seiten vom kulturellen Austausch profitieren können. 😉