Diesen Artikel möchte ich insbesondere meinen Freunden im Flensburger Bach-Chor widmen, die sich durch den Titel vermutlich am ehesten angesprochen fühlen werden.

Eigentlich soll dieser Blog ja primär meiner Freiwilligenarbeit hier in Brasilien gewidmet sein. Da aber alle, die mich kennen, wissen, dass Singen ein wichtiger Teil meines Lebens ist, erstaunt es wohl nicht, dass ich auch hier in Brasilien einen großen Teil meiner Zeit damit verbringe.

Mein Arbeitsalltag in der Waldorfschule enthält bereits viel Gesang: Von der morgendlichen Begrüßung („Sol, querido Sol“), über Festmusik (São João), bis zu den englischen Liedern, dich ich in meinem Unterricht verwende, ist Musik nicht aus dem Waldorfalltag wegzudenken. Selbst die wöchentliche Mitarbeiterversammlung wird durch ein gemeinsam gesungenes Lied eingeleitet.

Mir als eingefleischten Chorsängerin reicht das jedoch noch nicht. Ein Jahr ohne meinen Bach-Chor-Freundeskreis ist schon Entbehrung genug. Doch die Herausforderung von Zwerchfell und Stimmbändern, sowie die gesummten oder gepfiffenen schwierigen Koloratur-Stellen, die einem in Endosschleife im Kopf hängen – das kann kein São João-Ohrwurm ausgleichen!

Wie ich bereits in einem früheren Eintrag erwähnt habe, habe ich mir daher schon im April einen Chor direkt hier in São Paulo gesucht: Den Coral da Cidade de São Paulo. Der Vorteil: Dieser Laienchor widmet sich ganz der música erudita, also der Musik, die wir allgemein als Klassik bezeichnen. Und solche Chöre gibt es in Südamerika nicht gerade wie Sand am Meer, handelt es sich doch nicht wie bei uns zum volkseigenen Kulturgut, sondern um Importware. Dementsprechend froh war ich, einen Chor gefunden zu haben, in dem ich „meine Musik“ singen kann. Einziger Nachteil: das frühe Aufstehen am Samstagmorgen. Die Chorprobe beginnt zwar „erst“ um 9 Uhr – allerdings zwei Stunden Fahrt entfernt, nahe des Stadtzentrums. Aber das ist schön, denn so können wir – und mit „wir“ schließe ich meine liebe Mitfreiwillige Johanna mit ein, die seit ihrer Ankunft ebenfalls Chormitglied ist – uns jede Woche wieder aufs Neue unserer deutschen Disziplin versichern. 😉

Der Anlass für mich, nun diesen Artikel zu schreiben, ist der Abschluss des ersten Werkes, das ich mit „meinem neuen“ Chor einstudiert habe: Händels Messiah.

Das wird vielleicht den ein oder anderen wundern: Ein Weihnachtsstück Ende Juli? Auch ich war zunächst verwirrt, bis mir einfiel, dass die Konzerte somit in den tiefsten Winter fallen, also zumindest jahreszeitlich gut passen. Und in den letzten Wochen, wenn wir abends in Jacken und Decken gewickelt und Tee schlürfend im Freiwilligenhaus saßen, fühlte ich mich das eine oder andere Mal durchaus in der Stimmung, ein weihnachtliches „Adeste Fideles“ anzustimmen. Messiah im Juli ist also doch nicht so abwegig, wenn man sich in Brasilien befindet.

Kalt – da kann man durchaus ein bisschen Weihnachtsstimmung aufbringen

Ein Jahr lang hat der Chor sich nun also auf dieses doch recht umfangreiche Oratorium vorbereitet und die Probenarbeit nun endlich durch vier denkwürdige Konzerte abgeschlossen. Bis zur letzten Generalprobe musste ich mich gedulden, unseren Veranstaltungsort endlich bestaunen zu können. Dieser war nämlich keine geringerer als die Sala de São Paulo, berühmt für ihre Architektur (es handelt sich um einen ehemaligen Bahnhof) und einer der besten Akustiken der Welt. Angeblich handelt es sich gar um die beste Konzerthalle Lateinamerikas, in der auch schon Andreas Scholl gesungen hat und die in Reiseführern von São Paulo als Sehenswürdigkeit aufgezählt wird. Demensprechend beeindruckt war ich: eine riesige Bühne, rund 1500 Zuschauerplätz, stillvolle Verzierungen, warme Beleuchtung, gepolsterte Sitze für den ganzen Chor. 🙂

Foto vom Konzert in der Sala de São Paulo

Allein schon in dieser Hinsicht waren die Konzerte für mich also schon ein außergewöhnliches Erlebnis, bin ich es doch eher gewöhnt in den kalten Kirchen Schleswig-Holsteins zu singen.

Nun muss die Konzertgarderobe natürlich dem Ambiente entsprechen, also war für alle Chormitglieder Uniform angesagt. Für die Männer: Anzug mit vereinseigener Krawatte; und für uns Frauen: langes schwarzes Kleid samt Stola und Glitzerbrosche. Die Kleider durften wir direkt vom Verein kaufen, aber aufgrund des günstigen Preises (alles zusammen für ca. 30 Euro) unterstelle ich hier mal keine Geschäftemacherei. 😉

Chic in Uniform

Das Programmheft zu den Konzerten wurde professionell gedruckt und sieht auch dementsprechend edel aus. Voller Begeisterung stellten Johanna und ich fest, dass neben allgemeinen Informationen zu Stück und Musikern, sowie der obligatorischen Übersetzung des englischen Textes ins Portugiesische, auch alle Chorsänger namentlich aufgelistet wurden. In dieser Auflistung von rund 200 Sängern sind also nun auch Johannas und mein Name verewigt. 😀

In Deutschland habe ich noch nicht bewusst erlebt, dass so ein großer Chor seine Mitglieder auflistet. Dabei finde ich, dass es eine schöne Idee ist. Selbst wenn sich außer dem Korrektor vermutlich niemand alle Namen durchgelesen hat, ist es doch eine Form der Wertschätzung und des Respektes für die Anstrengung, die jeder Beteiligte in die gemeinsame Aufführung gesteckt hat.

Alle Chormitglieder werden namentlich aufgelistet

Und diese Anstrengung, die aufgebracht werden musste, ist tatsächlich viel höher als bei einem vergleichbaren Konzert meines Chores in Deutschland. Diese Theorie habe ich zumindest im Verlauf der Probenarbeit und im Austausch mit meinen neuen Chorkollegen aufgestellt.

Zum Einen bereiten die englischen Texte den meisten Brasilianern viel mehr Schwierigkeiten als uns Deutschen, die einen vergleichsweise hervorragenden Englischunterricht genießen. Befragt man hier Menschen nach ihren Englischkenntnissen, erhält man durchweg die Antwort, dass in der Schule eigentlich nur die Formen von to be gelernt wurden. Wer hier gut Englisch spricht, hat in aller Regel auch entsprechend dafür bezahlt (oder das Glück, im Nachbarhaus deutscher Freiwilliger aufzuwachsen… mehr zu unseren Nachbarskindern in einem anderen Beitrag).

Nun möchte ich nicht behaupten, dass deutsche Chorsänger alle perfekt englisch sprechen. Trotzdem hätte ich bisher nicht angenommen, dass man einem Chor einen Akzent anhören kann. Anstatt zu beschreiben, wie es klingt, wenn 200 Sänger „All we like sheep“ mit einem portugiesischen Akzent singen, verweise ich an dieser Stelle lieber auf die Videoaufnahmen vom Konzert.

Fairerweise muss man aber sagen, dass die Aussprache gegenüber anderen Qualitäten eines Chores weit hintenan steht. Solange die Artikulation klar und einheitlich ist, kann man darüber hinweg sehen, finde ich. Für mich persönlich bringt die brasilianische Aussprache sogar einen gewissen Charme ins Werk und macht den Chor noch liebenswerter.

Vielmehr sind es aber die gesanglichen Qualitäten, die bei einem Chor entscheidend sein sollten. Und gerade hier bin ich beeindruckt von der Anstrengung, dem Ehrgeiz und Arbeit, die dazu gehören, als 200-köpfigem Laienchor den kompletten (!) Messias aufführen zu können.

Bisher habe ich noch unerwähnt gelassen, dass der Chor offen für jeden ist. Das heißt auch, dass keine Aufnahmeprüfung stattfindet, bei der man abgelehnt werden kann. Die einzige Voraussetzung für Mitglieder ohne musikalische Vorerfahrung ist die Teilnahme am Theorie- und Gesangsunterricht, der allerdings vom Verein durch professionelle Gesangslehrer kostenlos (!) zur Verfügung gestellt wird. (Wäre São Paulo nicht so groß, würde ich am liebsten selbst von diesem Angebot profitieren, aber 2 x 2 Stunden Fahrt unter der Woche kann ich mir leider nicht leisten.) In erster Linie soll auf diese Weise jedem ein Zugang zu klassischer Musik ermöglicht werden, in zweiter Linie ist dieser musikalische „Nachhilfeunterricht“ aber auch notwendig, da der schulische Musikunterricht einen noch schlechteren Ruf genießt als der Englischunterricht. Nicht nur ist er auf eine viel kürzere Zeit begrenzt als in Deutschland; darüber hinaus wird so gut wie gar nicht gesungen oder praktisch musiziert – außer man ist Waldorfschüler.

Neben dem großen Chor gehört zu den ehrgeizigen Projekten des Vereins außerdem ein Kinderchor, der bei großen Konzerten ein paar Stücke mitsingen darf; beim Messiah zum Beispiel den Hallelujah-Chor. Man kann also mit einer praktisch untrainierten Stimme in diesem Chor anfangen und mit etwas Durchhaltevermögen schließlich den Messias mitsingen. Und dank der straffen Probenstruktur (1 Stunde Einsingen/Stimmbildung, 1 Stunde Stimmproben, 1 Stunde Gesamtprobe) und dem ein oder anderen Griff in die Trickkiste bei schwierigen Vokalisen („Singt ALLES Staccato, damit man die einzelnen Töne hört!“) ist der Messiah trotz schwieriger Voraussetzungen präsentationsfähig geworden. Dem Chor und insbesondere seinem Leiter Luciano Camargo gilt hierfür meine ganze Anerkennung.

Was braucht ein Chor nun noch, um ein Konzert singen zu können, außer Einheitskleidung am Leib und dem Messias auf der Zunge? Richtig, Verhaltensregeln.

Und damit meine ich nicht Vereinbarungen zum Auftreten („Reihenweise auftreten, durch die linke Tür“, wie sie zu jedem Konzert auch in Deutschland gehören, sondern auch:

„Bitte NICHT dem Publikum zuwinken oder Kusshände verteilen!“

„Auf der Bühne nur im äußersten Notfall aufstehen, also wenn ihr wirklich dringend auf Toilette müsst! NICHT um eure Freunde zu besuchen!“

„Keine Unterhaltungen mit dem Nachbarn während des Konzerts!“

„Keine Handys auf der Bühne! Auch nicht die Frauen, die meinen, das Handy könne man unauffällig im Ausschnitt verschwinden lassen!“

Der Sinn dieser Regeln, über die wir uns auf dem Weg zur Bühne noch amüsiert haben, wurde mir wenige Minuten später bewusst. Da wurden dann als erstes Verwandte und Freunde begrüßt, Handys wurden gezückt, um noch schnell ein paar Bühnen-Selfies bei Facebook hochladen zu können. In der Pause erhoben sich ausgesprochen viele „Toiletten-Notfälle“. Ein Chormitglied drehte seine Runden ausgestattet mit einer Spiegelreflexkamera und fotografierte reihenweise glückliche Sänger, die zu dritt oder mehreren posierten. Die kleine, deutsche Stimme in meinem Kopf flüsterte: „Das dürfen die gar nicht! So gehört sich das aber nicht, also wirklich, mitten im Konzert! Und dazu noch in so einem schicken Konzerthaus, da muss man sich doch mal ein bisschen zusammenreißen können!“ Selbst die Stimmführer nutzen die Auszeit, um noch schnell ein kleines Feedback und Tipps für den weiteren Verlauf mitzugeben oder Beschwerden entgegenzunehmen. Als mir dieser Tumult auf der Bühne schon unangenehm wurde, erinnerte mich ein Blick ins Publikum glücklicherweise daran, dass wir eben nicht in Deutschland waren: Hier ein verliebtes Pärchen, das die Pause nutzt, sich ausgiebig die gegenseitige Zuneigung zu zeigen, dort eine Dame, die die Frontkamera ihres Smartphones zum Spiegel umfunktioniert, um ihr Make-Up aufzufrischen. Gefühlt die Hälfte des Publikums kam nach der Pause erst wieder rein, als das Konzert schon wieder im Gange war – wo soll das Problem sein?

Während der Pause

Nach den Konzerten wurden wir befragt – allein die Tatsache, dass wir Deutsche sind, qualifiziert uns offenbar dazu, so etwas wie eine Expertenmeinung abzugeben –, wie uns denn die Konzerte gefallen hätten. Ich habe wahrheitsgemäß geantwortet, dass es mir gut gefallen habe, aber „anders“ gewesen sei als ich es aus Deutschland kenne. Den Teil mit dem (von meiner Seite gefühlten) fehlenden Sinn für Zeremonie und Ernsthaftigkeit konnte ich spontan nicht erklären und habe ihn weggelassen, was vielleicht auch ganz gut so war. Ein bisschen Chaos ist nichts Schlimmes und gehört zum Leben dazu. Die Geschichte mit dem Kinderchor, der nur das erste und das letzte Konzert mitsingen durfte, vermutlich auf Grund von rechtlichen Bestimmungen bezüglich der Uhrzeit (die Konzerte dauerten bis fast 24 Uhr), worüber sich aber scheinbar bis zum Tag des Konzertes niemand Gedanken gemacht hat, habe ich bis heute nicht ganz verstanden. Aber muss ich ja auch nicht. 😉

Anfangs habe ich noch überlegt, ob es vielleicht eine bessere Idee wäre, mir einen Chor zu suchen, der brasilianische Musik singt, um möglichst viel Kultur mitbekommen zu können. Immerhin kann ich Händel und Brahms ja auch zuhause in Deutschland singen. Andererseits singe ich, wie anfangs erwähnt, bereits die ganze Woche über Lieder auf portugiesisch – da kann ich meinen Stimmbändern wohl einmal die Woche ein kleines bisschen Heimat gönnen. Und wie jetzt vielleicht nachvollziehbar geworden ist: Hier in São Paulo vermag mir auch das Singen in einem klassischen Chor das brasilianische Lebensgefühl jede Woche ein Stück näherzubringen.

Messiah-Konzert

Kurz vor dem Konzert im Chorsaal

🙂